Wer ist schuld? Mir egal.

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Sicher ein unerwartetes Thema bei einem Blog, wo es „eigentlich“ um Web­seiten geht. Aber Web­seiten sind nicht los­ge­löst von ihren Unter­nehmen, und Unter­nehmen sind nicht los­ge­löst von den Menschen, die sie führen und auf­bauen. Und wie wir alle wissen, sind Menschen nun­mal Menschen, und ich schreibe darum einen langen Text über die Schuldfrage.

Manchmal passiert etwas Blödes

Die Schuldfrage taucht auf, wenn etwas Unan­ge­nehmes bis Schlimmes vor­gefallen ist:

  • jemand ist verletzt
  • etwas ist kaputtgegangen (das für irgendwen wichtig war)
  • jemand hat etwas verloren (Geld, Gegenstände, Zuneigung)

Letzteres bringt mich schon zum Kern der Sache: die Schuld­frage tritt in Situa­tionen auf den Plan, wo eine zwischen­mensch­liche Beziehung einen Knacks bekom­men hat. Irgendwas ist passiert, und als Folge daraus steht eine Beziehung in Frage.

Unser Gehirn mal wieder

Das fühlt sich für uns Menschen als extrem soziale Wesen immer äußerst unan­genehm an, denn unsere Steinzeit­biologie empfindet das schlicht­weg als lebens­bedrohlich. Und in früheren Zeiten, als unser Über­leben noch sehr viel extremer und vor allem direkter von unserer unmittel­baren sozialen Gemein­schaft ab­hängig war, wäre es das unter Um­ständen auch gewesen.

Von daher ist klar, dass die älteren Teile unseres Gehirns in solchen Fällen massiv Alarm schlagen. Dafür verschafft es sofor­tige Erleich­terung, wenn man einfach sagen kann: Ich war's nicht, mich trifft keine Schuld. Und damit man auch wirk­lich von mög­lichen Auswir­kungen unbe­troffen bleibt, gleich im Anschluss: Die war's. Richte deinen Zorn, deine Schaden­ersatz­forderungen, deine Repres­salien gegen die.

Und schwupps! schon bin ich aus dem Schneider. Jemand anders „kriegt es ab“. Über­leben gesichert, fürs Erste.

Der Knackpunkt

Oberflächlich funktioniert das, und man kann damit durchs ganze Leben kom­men. Aber – ist das mein Ziel? Möglichst unbe­schadet durchs Leben kommen? Hauptsache überleben? Also, meins ist es nicht.

Sowieso geht es im heutigen Kontext ja auch in aller Regel nicht mehr ums physi­sche Über­leben, sondern um ein sozial-emotionales Bedürfnis: Wenn ich was verbockt habe, dann mag mein Gegen­über mich vielleicht nicht mehr. Viel­leicht redet sie nie wieder mit mir. Viel­leicht stehe ich auf ewig in ihrer Schuld (das ist das Wörtchen schon wieder!). Oder, manchmal das Aller­schwierigste: wenn an meinem Verhalten etwas auszu­setzen wäre, dann müsste ich daran konse­quenter­weise etwas ändern. Klingt aaaanstrengend!

Da ist es doch viel einfacher zu sagen – ich kann nichts dafür, jemand anders muss.

Blickwinkel ändern!

Man kann das auch anders sehen und angehen, wenn das Ziel anders defi­niert wird. Ich zum Beispiel möchte mein Leben in einem Netz­werk aus vielen guten, tiefen, respekt- und liebe­vollen Beziehungen verbringen. Solche Beziehungen ent­stehen aber nicht nur bei Sonnen­schein, sie sind wie Pflanzen: Regen ist wichtig, und vor allem: unver­meid­lich. Es ist einfach nicht möglich, eine tiefe Beziehung zu haben, in der nie etwas Blödes passiert!

Die wichtige Frage

Und darum ist die einzige Frage, die mich in einer zwischen­mensch­lich blöden Situation interessiert, folgende:

Wer übernimmt jetzt Verantwortung?

Das ist das einzige was interessant ist, PUNKT.

  • Wer fegt die Scherben auf?
  • Wer geht auf die anderen zu?
  • Wer trifft Vorkehrungen, dass so etwas nicht wieder passiert?

Das Wichtige dabei: Ich schreibe nieman­dem vor, was sie tun muss. Verant­wortung über­nehmen beruht auf Frei­willig­keit, weil sie aus der eigenen Er­kennt­nis kommt. Den Menschen, die das gleiche Ziel ver­fol­gen wie ich, ist der Knacks in der Be­ziehung wich­tiger als das ober­flächliche Drumrum.

Was ist der Schmerz?

Und das ist auch etwas, was nicht offen­sicht­lich ist: Das Problem ist ja nicht der herunter­gefallene Teller oder das verlo­rene Geld oder was zwei Leute mit­einan­der in einem Hotel­zimmer gemacht haben. Das Ent­schei­dende ist: Mindestens eine betei­ligte Person ver­bindet damit negative Aus­wir­kungen für sich selbst.

Manchmal ist diese negative Verbin­dung gleich klar, zum Beispiel wenn mich ein Auto anfährt. Körper­liche Ver­let­zungen sind für alle Menschen unan­genehm. Aber sehr oft ist die Sache gar nicht so einfach. Wenn etwas kaputt­geht, sind Menschen manch­mal wütend und manch­mal traurig. Warum? Wütend viel­leicht, weil sie den Vorfall als Unacht­samkeit gegen­über ihren Sachen inter­pretieren. Traurig vielleicht, weil es ein Erin­nerungs­stück von ihrer Oma war. Aber es gibt immer fast so viele Möglich­keiten und Nuancen, wie es Menschen und mensch­liche Beziehungen gibt.

Der wichtigste Teil der Verantwortung

Das Wichtigste in jeder Situation, in der jemand Verant­wortung über­nehmen möchte, ist daher die Auf­nahme der Verbin­dung zum Gegen­über. Erstmal verstehe ich ihren Schmerz – falls ich einen eige­nen habe, was auch nicht selten der Fall ist, muss ich mich darum viel­leicht zuerst kümmern. Aber ohne das offene Ohr und die Frage nach dem Innen­leben, den Gefühlen der anderen Person bleibt der Knacks in der Beziehung GARANTIERT.

Das wirklich Schwierige, das absolut Unan­genehme daran ist: Man muss den Schmerz, die Wut, die Trauer, die Ent­täuschung der anderen Person erstmal anneh­men – und das bedeutet aushalten. So lange wie es eben dauert, bis sich der Zustand wandeln kann. Dieser Gedanke ist für viele Menschen so abschreckend, dass sie lieber bei ober­fläch­lichen Beziehungen, sogar bei lang­jährigen Beziehungen mit ständig schwe­lenden Konflikten, bleiben.

Ein kleines Beispiel

Sagen wir, ich bin Mutter von zwei Kindern, werkele gerade in der Küche und höre aus dem Wohn­zimmer, wie Porzellan zu Bruch geht. Ich gehe rüber und vor mir liegt eine große Vase in tausend Scherben zer­sprungen, daneben meine Kinder, die beide sofort rufen: „Ich war's nicht!“

Dann frage ich persönlich nicht, wer schuld ist, und wahr­schein­lich nicht einmal, wie die kaputte Vase zustande kam (das ist eine ganz andere Frage wohl­gemerkt, und oft eine nützliche). Was mich haupt­säch­lich interessiert ist – wer räumt das jetzt auf? Und ich würde sagen, wenn in meiner Familie sonst alles in Ordnung ist, dann holt ein Kind Schaufel und Kehr­wisch und das andere den Staub­sauger, und ich gehe einfach wieder in die Küche und weiß, dass die Scherben versorgt werden.

Ist denn alles in Ordnung?

Schon allein weil beide Kinder sofort „Ich war's nicht“ gerufen habe, vermute ich aber, dass nicht alles in Ordnung ist in unserem Familien­leben. Vielleicht ver­stricken sich die Kinder in gegen­seitigen Schuld­zuwei­sungen. Vielleicht stand die Vase auch außer Reich­weite von Spiel­bewe­gungen an einem sicheren Platz. Vielleicht fühle ich mich getroffen und bin wütend und schreie erstmal rum (das passiert auch den besten von uns).

Wie übernehme ich Verantwortung?

Wie ich schon sagte: verantwort­liches Verhal­ten muss aus freien Stücken kom­men, und deshalb kann ich immer nur über­legen, wie ICH Verant­wortung über­nehmen kann. Was kann ich in dieser Situation tun?

Rahmen klären: Wenn die Kinder noch kleiner sind und der Unfall durch kind­liches Rum­toben entstand, ist es meine Auf­gabe als zustän­dige Erwach­sene, sämtliche zerbrech­lichen Gegen­stände sicher außerhalb des Spiel­bereichs zu ver­wahren und unter Umstän­den auch den Spiel­bereich für die Kinder sehr klar zu defi­nieren („ihr dürft im Spiel­zimmer toben, aber im Wohn­zimmer nur ruhig spielen“).

In Kontakt gehen: Wenn ich die Kinder ange­schrieen habe oder auch nur unspe­zifisch laut gewor­den bin, ist es absolut meine Aufgabe heraus­zu­finden, was genau in mir los ist. Welche Bedeu­tung gebe ich dieser zerbro­chenen Vase? Was ist mein Schmerz? Dann ist es meine Auf­gabe, diesen Schmerz zu ver­sor­gen, und im An­schluss in Ruhe mit den Kindern zu sprechen und ihnen ganz ex­pli­zit zu sagen, was mich zum Schreien veran­lasst hat, dass sie daran keine Schuld tragen, dass ich sie immer noch lieb habe, und even­tuell was ich mir für die Zukunft von ihnen wünsche, damit das nicht wieder passiert.

Härtefall

Sagen wir, die beiden Kinder sind schon älter, ich habe vor dem Unfall keine Tobe­geräusche gehört, und die Vase stand defi­nitiv völlig außer Spiel­reich­weite. Womög­lich steht noch ein hastig halb zurück­gescho­bener Stuhl herum. Mein erster Gedanke ist, dass das eigent­lich nur vorsätz­lich passiert sein kann, und die Vase war mir heilig. (Vielleicht war sie eine super­teure Ming-Vase. Oder mein abso­lutes Lieblingsstück.)

In dieser Situation wird meine erste Reaktion vermut­lich auch keine hilf­reiche sein. Ich werde für mich und meine eige­nen Gefühle erstmal ein paar Tage Zeit brauchen. Sagen wir, beide Kinder machen einen „schuld­bewussten“ Ein­druck, aber keines will es gewesen sein. Was tue ich jetzt?

Introspektive

Wenn ich voll in meine Verant­wortung gehe, dann denke ich (nach der Versor­gung meines Schmerzes) darüber nach, dass offen­sicht­lich in meinem Fami­lien­leben etwas nicht stimmt. Glück­liche, einge­bundene, emo­tional ver­sorgte Kinder stei­gen nicht auf Stühle, um an hei­lige, super­teure Vasen heran­zu­kommen. Irgend­was ist schon los – und wenn ich bereit bin, wirklich hinzu­schauen, dann muss ich viel­leicht ein­sehen, dass ich meinen Kindern in der letzten Zeit (womög­lich schon jahre­lang) sehr wenig Auf­merk­sam­keit geschenkt habe. Und vielleicht erwähne ich die Heilig­keit dieser Vase min­destens zweimal die Woche.

Bewusst Beziehung gestalten

Ist mir die Vase wichtiger als die Be­ziehung zu meinen Kin­dern? Ver­mut­lich nicht. Habe ich vielleicht diesen Ein­druck erweckt? Gut mög­lich. Was tue ich also? Ich schenke mei­nen Kin­dern ganz bewusst mehr Auf­merk­sam­keit, ich gehe in Kontakt – sogar wenn sie das erst­mal ab­lehnen, was in ge­wachse­nen Situa­tionen oft der Fall ist. Damit meine ich nicht, dass ich mich auf­dränge, sondern dass ich DA bin. Auch wenn noch­mal was passiert, auch wenn sie dicht machen, auch wenn ich wahr­schein­lich erstmal mit Selbst­zweifeln zu kämpfen habe (bin ich eine schlechte Mutter?). Dran­bleiben und Beziehung gestalten.

Das wäre jetzt thematisch schon ein ganzes eigenes Blog. Was ich sagen will ist: Ich weiß nicht was aus dieser verän­derten Haltung von mir ent­stehen würde. (Im Gegen­satz dazu weiß ich ziemlich genau, was aus Schuld­zuwei­sungen entsteht: mehr Schuld­zuwei­sungen, sehr ein­gefah­rene Muster, und wenn meine Kinder mal erwachsen sind, reden sie nicht mehr mit mir.) Aber ich kann mir gut vor­stellen, dass sie nach einer Weile echter, ernster, verläss­licher Bemühungen meiner­seits wieder auf­machen. Dass wir wieder reden und dass ich wieder weiß, was im Leben meiner Kinder los ist und wie es ihnen wirklich geht.

Und irgendwann, womöglich Jahre später, kommt vielleicht eines der beiden Kinder zu mir und sagt: „Du, Mama… das mit der Vase damals, das war ich. Ich wollte sie nur mal aus der Nähe an­schauen, weil sie dir so wichtig war.“

Ich weiß nicht wie du das siehst – mir persön­lich wäre das eine kaputte Ming-Vase absolut wert.

Mehr Macht = mehr Verantwortung!

Das war jetzt viel Text und ein, hm, unternehmens­fremdes Beispiel. Das macht aber nix. Es ist in zwischen­mensch­lichen Situa­tionen immer auch wichtig klar zu sehen, wer mehr Macht hat (oh, ein böses Wort, aber darüber schreibe ich wann­anders). Im Beispiel mit den Kindern ist leicht ersicht­lich, dass ich als Erwachsene deutlich mehr Macht habe: mehr Wissen, mehr Können, mehr Erfahrung, mehr Entschei­dungs­fähig­keit, mehr Freiheit. Und darum ist es auch sehr viel mehr meine Aufgabe, in die Verant­wortung zu gehen und die Beziehung zu gestalten.

Zwischen Erwachsenen kann das gleich­gewich­tiger sein, aber auch hier gibt es oft Unter­schiede: Ein Beispiel, das ich oft sehe und selber schon stark empfunden habe, sind „typische“ Mann-Frau-Beziehungen mit gemein­samem Haus­halt, in denen der Mann den Groß­teil des Geldes verdient. Das ist eine ungleiche Macht­struktur! Ein weiteres Beispiel sind Hierarchien in einem Angestellten­verhältnis.

Fazit für mich

Ich betrachte inzwischen mein ganzes Leben und alle meine Bezieh­ungen konse­quent unter diesem Aspekt. Wer geht in die Verant­wortung? Und ganz ehrlich, die Antwort auf diese Frage trennt die Spreu vom Weizen. Je weniger jemand bereit ist, selbst­verant­wortlich zu denken und zu handeln, desto weniger ist mir eine gute, verläss­liche Beziehung zu diesem Menschen möglich.

Das ist einfach so, und alle meine Bemüh­ungen ändern daran unter Umstän­den nichts. Verant­wort­liches Handeln MUSS freiwillig entstehen.

Von daher begrenze ich den Platz, den schuld­orien­tierte Menschen in meinem Leben ein­nehmen, auf das, was sich für mich stimmig anfühlt. (Dass ich selbständig bin und keine Chefin habe, ist bezeich­nend – ich stelle nämlich hohe Ansprüche an eine Chefin!)

Fazit für Dich

Tja, was heißt das jetzt alles für Dich? Weiß ich nicht. Aber Du kannst das selber auf Dein Leben und natürlich genauso auf Dein Business über­tragen, Du bist ja nicht doof. :-)

Und wenn Du bis hierhin gelesen hast und nicht aufge­bracht bist, dann hast Du vermut­lich selbst schon gemerkt, dass Dich die Schuld­frage nie weiter­bringt. Wie konse­quent setzt Du diese Erkenntnis um?